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Rezension:Die Radikalität des Alters: Einsichten einer Psychoanalytikerin (Gebundene Ausgabe)

Die Autorin dieses beeindruckenden Buches ist die Psychoanalytikerin, Medizinerin und Autorin Margarete Mitscherlich-Nielsen, die Jahre 1917 geboren wurde und einst gemeinsam mit ihrem Mann das bahnbrechende Buch "Die Unfähigkeit zu trauern" schrieb.

Das Vorwort zum Buch hat Alice Schwarzer verfasst, die mit Frau Mitscherlich auch ein aufschlussreiches Interview realisierte, das man zum Ende des Buches lesen kann.

Das Buch ist in drei große Abschnitte eingeteilt. Im ersten Abschnitt, der den Titel "Herkommen" trägt, berichtet die Autorin von ihrer Kindheit, ihrer Jugend, ihrem Studium. Ihre Wahl Psychoanalytikerin zu werden, vereine viele Prägungen ihrer Kindheit und Jugend und ihr Interesse sowie Einsatz für die Frauenbewegung ebenfalls, so die große Dame der Psychoanalyse.

Mitscherlich berichtet von ihren Erfahrungen als Studentin in der NS-Zeit in Jena und Heidelberg und meint rückblickend, dass die Studentinnen damals kritischer waren als die Studenten, (vgl.: S.23). Sie stellt weiter fest, dass in den fünfziger und sechziger Jahren eine Neuaneignung psychoanalytischer Erkenntnisse stattfand, die in den zwölf Jahren der nationalsozialistischen Barbarei verlorengegangen waren. In den 1950er Jahren vor allem wurde sie und ihr Mann Alexander Mitscherlich vom Aufbau eines psychoanalytischen Grundwissens in Anspruch genommen. Nach zahlreichen Diskussionen im In- und Ausland schrieben die beiden das eingangs bereits erwähnte Buch "Die Unfähigkeit zu trauern".

Sie schreibt vom Tode ihres Mannes im Jahre 1982 und lässt nicht unerwähnt, dass ihre gemeinsame, vor Jahrzehnten gestellte Diagnose einer Unfähigkeit zu trauern, an Aktualität nichts eingebüßt habe. Dennoch ist Mitscherlich davon überzeugt, dass sich mittlerweile viele Deutsche gegen eine Mentalität wehren, die blind und denkunfähig mache, die weder Freund noch Feind, Gegenwart oder Vergangenheit, realitätsgerecht wahrzunehmen vermag. Sie konstatiert, dass Vergessen und Verdrängen uns nicht befreie, auch keine Selbstgerechtigkeit im Umgang mit der Vergangenheitsbewältigung unserer Landsleute in den neuen Bundesländern. Sie gibt zu bedenken, dass wir dann, wenn wir Konflikte, die stets einen historischen Zusammenhang haben, in ihrer ganzen Kompliziertheit wahrzunehmen bereit seien, unser antiquiertes Denken aufgeben können und zu einem Neuanfang fähig sind. (vgl.: S. 39).

Die Autorin thematisiert u.a. die Medizin und den Antisemitismus in der NS-Zeit und meint, dass dieses Thema es notwendig mache, erneut darüber nachzudenken, ob und weshalb Ärzte im Nationalsozialismus und dessen Rassenwahn in besonders hoher Zahl verfielen. Dabei stellt sie fest, dass es Ärzten sicher nicht leicht fiel, nach einem totalen Krieg sich Scham und Schuld, dem Versagen oder der Pervertierung des eigenen Gewissens zu stellen und seiner Identifikation mit dem barbarischen System innezuwerden, ohne in Apathie oder Melancholie zu verfallen, (vgl.: S.50).

Mitscherlich schreibt von dem Zusammenhang zwischen dem autoritären Charakter der Deutschen und der Entwicklung zum Antisemitismus. Hier nämlich besteht ein enger Zusammenhang. Sie schreibt auch vom besessenen Forschungswahn von Ärzten, mit dem sie ihr narzisstisches Ich-Ideal befriedigten, das sie weit mehr beherrschte als die Fähigkeit, den Anderen als Objekt mitmenschlichen Mitleids zu sehen und sich in ihn einzufühlen, (vgl.:S. 58). Sie resümiert in dieser Beziehung, dass in der autoritätsgläubigen deutschen Gesellschaft mit ihrem Gehorsamsideal Erniedrigung an der Tagesordnung gewesen und Auflehnung undenkbar gewesen sei. Je stärker der Zwang zum Gehorsam, desto heftiger allerdings sei die untergründige Aggression, die jedoch aus Strafangst mithilfe der Idealisierung der Autorität abgewehrt werde, (vgl.S.6o).

Mitscherlich unterstreicht, dass der Jude in der NS-Zeit endgültig als Hauptfeind der germanischen Rasse ausgemacht worden sei. Den Mut zu haben, ihn zu vernichten, war die "höchste Tugend" und "deutsche Pflicht". Die Psychoanalytikerin mahnt an uns an, uns mit unserer Gefühlswelt so aufrichtig wie möglich auseinanderzusetzen und auf diese Weise die starre Neigung zur Vorurteilsbildung und den damit verbundenen Wiederholungszwang zu durchbrechen, (vgl.: S.61).

Die Autorin thematisiert in der Folge weitere Arbeitsfelder ihres Lebens als Psychoanalytikerin, schreibt über die androgyne und gynandrine Entwicklung der Geschlechter, von denen sie hofft, dass diese ihnen eine geschwisterliche Beziehung ermöglicht, ohne dabei asexuell zu sein.

Mitscherlich schreibt auch über ihre Auffassung Sexualität in der Psychotherapie und denkt über männliche und weibliche Werte nach. Sie geht davon aus, dass Verhaltensweisen, die bislang nur Männern erlaubt waren, wie etwa Durchsetzungsfähigkeit, Selbstbewusstsein, Freude am Erfolg, Erotik der Macht, von Frauen übernommen, das Leben beider Geschlechter verändern und die Gesellschaft kreativ beeinflussen können und sie von einer erstarrten weiblichen oder männlichen Identität befreien vermögen, (vgl.: S.139).

Zum Thema Emanzipation stellt Mitscherlich auch viele Überlegungen an. Hier warnt sie vor neuen Zwängen, die entstehen können und gibt zu bedenken, dass auch kindliche Egoismen und unaufgelöste Trotzverhältnisse dem Bedürfnis nach Selbstverwirklichung zu Grunde liegen können. Angst vor Emanzipation ist immer Angst vor eigenständigem Denken. Sich über den Nutzen und den Nachteil der Idealisierung, wie auch der Emanzipation oder der psychoanalytischen Identität Gedanken zu machen, bedinge, sich dessen bewusst zu sein, dass es sich um ein weites, von vielen Dichtern, Denkern, Forschern kontrovers beackertes Feld handele, (vgl.: S.163).

Mitscherlich schreibt reflektiert in ihrem Buch auch das Phänomen des Friedens und gibt zu bedenken, dass die Eltern unendlich viel zum Frieden beitragen können. Sofern Eltern die Fähigkeit fördern, dass Kinder Distanz zu sich selbst gewinnen und den Standpunkt des anderen mit einbeziehen, verfallen Kinder nicht so rasch in Zustände der Aggression und Gewalt, (vgl.: S.175).

Die Autorin schreibt zum Schluss des Buches auch darüber, dass sich der Lebenssinn und das Lebenswerk im Laufe der Jahre verändern können, sich gegenseitig beeinflussen und von Zufall und Schicksal nicht verschont blieben. Am Beispiel ihres Lebens, über das sie in diesem Zusammenhang berichtet, wird das deutlich. Sie hält es für unsinnig, nach dem Sinn und Wert eines Lebens zu fragen und meint hingegen, dass ein zentrales menschliches Bedürfnis darin liege, uns selbst zu erkennen. Bewusst müsse uns werden, dass Einfühlungs- und Liebesfähigkeit davon abhängig sei, ob wir lernen, den anderen als anderen wahrzunehmen und das Eigene entsprechend zu achten oder ob wir gerade durch das andere des anderen neuen Sinn erkennen können, (vgl.: S.210).

Mitscherlichs Ziel bis zu ihrem Lebensende besteht darin, sich festliche Augenblicke zu verschaffen und nie zu vergessen, dass es solche Augenblicke immer wieder zu geben vermag und von ihr abhänge, ob sie verstehe, diese zu erkennen, diese zu erschaffen und zu genießen, (vgl.: S.239).

Im Anschluss an das lesenswerte Interview mit Alice Schwarzer fragt die Feministin die 93 jährige Margarete Mitscherlich:

"Wie machen wir es, Margarete- soll ich dir den Text zur Abstimmung schicken?"
Frau Mitscherlich antwortet:
"Du kannst ihn mailen. Ich maile ja auch immer mit meinen Enkeln."
Ein Buch, das ich sehr gerne weiterempfehle.

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